Anne Hoenig

Irmgard Berner - At Arm’s Length

Malerei ist die Schaffung einer Analogie zum Unanschaulichen und Unverständlichen, das auf diese Weise Gestalt annehmen und verfügbar werden soll. (Gerhard Richter, Notizen, 1981)

Von Irmgard Berner

Wie intim kann Entferntheit, kann Distanz sein? Wie alltäglich eine Bewegung, angehalten in einem Moment, und dennoch so unendlich geheimnisvoll? Die Malereien „At Arm’s Length“ von Anne Hoenig lassen in eine Serie von achtzehn Frauenportraits eintauchen, die genau diesen Reiz, diese Rätselhaftigkeit ausstrahlen und verkörpern. Die Protagonistinnen sind zumeist in Rückenansichten dargestellt, verortet in Bildräumen, deren Bestimmung ungewiss ist. Verunsichernd, beunruhigend ist ihr Setting, aber von gleichsam großer verführerischer Sinnlichkeit. Die Sinnsuche beginnt für den Betrachter da, wo er einem möglichen Blick der Weggewandten nachspürt, wo er eine übergeordnete Erzählung zu ergründen sucht, aber nicht finden kann. Seine eigene innere, erfahrungsbasierte Verfasstheit fängt an, sich mit dem zu verweben, was er in dem Bild wahrnimmt, was er zu kennen und erkennen meint und was sich doch seiner Kenntnis entzieht, was seinen Blick reizt und sein Gefühl rührt, sei es die Frau, die Szenerie oder der angehaltene intime Moment im Augenblick der Betrachtung.

Anne Hoenigs Gemälde operieren als emotionale Generatoren. Sie setzen beim Betrachter jenen höchst komplexen, neuronalen Prozess in Gang, der sich auf die Dynamik des Gedächtnisses stützt und auf die darin gespeicherten Erinnerungsbilder. Ihre Faszination beruht auf der „Mechanik der Wahrnehmung“, wie Hoenig den Vorgang nennt. Denn im kulturellen Wandel unserer Zeit wird Kommunikation zum Inhalt, die sozialen Medien schaffen den Traum großartiger Vernetzungen. Weil wir mit Informationen überflutet sind, bilden wir uns ein, die anderen zu kennen. „Aber Lärm ist nicht gleich Wahrheit. Und so wundern wir uns ständig über Missverständnisse.“ Anne Hoenig setzt diesem Lärm auf ihren Gemälden eine große Stille entgegen, eine Stille im angehaltenen Moment, und stellt die Frage in den Raum: Warum drehen sie uns den Rücken zu? Weil alles Sichtbare etwas verbirgt und wir wissen wollen, was verborgen liegt? Sie selbst sucht zu verstehen, was ist. Dafür erschafft sie Analogien. Zugleich vermeidet sie eine bestimmte Ästhetik, die für den Betrachter zum Hindernis werden könnte. Das Wegdrehen und Zukehren des Rückens unterstreicht in einer großen, aber sehr einfachen Geste die Trennung zwischen der Vorstellung, Bescheid zu wissen und der Wirklichkeit, dass wir so wenig wissen.

Es gibt eine lange Geschichte von Rückenakten in der Malerei, aber im Gegensatz zu Rückenakten von Renoir oder Velasquez wird bei Hoenig der Betrachter nicht zum Eindringling. Mit ihren Bildern will sie Reaktionen hervorrufen, im buchstäblichen Sinn soll der Betrachter sie körperlich spüren, auf sie reagieren. Die menschliche Vorstellungskraft, die Fähigkeit, Bilder im Prozess der Wahrnehmung zu erzeugen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie beeinflusst die Gefühlsregung bei der Bildbetrachtung, individualisiert und radikalisiert sie. Denn je nachdem was eingebrannt ist in die Erinnerung und unvergessen im Gedächtnis abgelegt, bilden sich neue Synopsen, manipulieren sich die Bilder gleichsam selber, fügen Manches hinzu, lassen aber Vieles weg. Das mentale Bild kann entweder im realistischen Sinn als Abbild der Wirklichkeit oder im idealistischen Sinn als Konstrukt einer spontanen Tätigkeit des Geistes aufgefasst werden. Hoenigs Bilder rufen spontane Emotion hervor, Gefühle, die in den Eingeweiden sitzen, aus dem Bauch kommen. Diese endogene Visualität kann den Körper zum Ort der Bilder machen, wie der Bild-Anthropologe Hans Belting es nannte. Hoenig will mit diesen Emotionen das Tor zur Bedeutung des Bildes öffnen und den Betrachter auf den Weg bringen, entlang dessen Spur er seinen eigenen, ganz individuellen Sinnzusammenhängen und Sinnschöpfungen folgen kann.

Anne Hoenig vermittelt Emotionen durch die Eloquenz der Geste. Die Posen sind angehalten inmitten einer Performance, einer Bewegung, sind fragmentiert in Zeit, Ort und Körper. Die einzelnen Bilder folgen keiner Handlung, keiner übergeordneten Erzählung, sie sind autark, stehen für sich. Wenn sie Fragen aufwerfen, so geben sie keine richtige, keine gültige Antwort, sie bilden kein absolutes Subjekt ab. Das titelgebende Idiom „At Arm’s Length“ - eine Armlänge - will Anne Hoenig als Phänomen der Distanz verstanden wissen, als Metapher, die dem Betrachter auf sehr intime und emotionale Weise erlaubt, die Distanz an sich in ihrer universellen Natur zu betrachten und in einem intellektuellen Akt der Aneignung zu reflektieren. Denn das Andere, das Gegenüber existiert durch die Interaktion: „Jeder ist dabei der Andere – eine Erfahrung, der wir kaum je ins Auge sehen.“

Dafür lässt der Bildausschnitt, die eigentümliche Unvollständigkeit des Motivs, Vieles offen und öffnet zugleich einen großen Spielraum für Interpretation. Hoenig schafft Analogien durch Repräsentation, sie setzt sich über jeden erzählerischen Duktus hinweg, das Im-Bild-Sein, die Momentaufnahme zählen. Die Detailaufnahmen, herausgeschnitten aus einem Verlauf, einem großen Ganzen. Darin ist das ihrem Werk zugrundeliegende Identitätskonzept mit Jean Baudrillards Idee des fraktalen Subjekts vergleichbar, welches wesentliche Eigenschaften fraktaler Objekte aufweist: „Ein fraktales Objekt zeichnet sich dadurch aus, dass sämtliche Informationen, die dieses Objekt bezeichnen, im kleinsten Einzeldetail eingeschlossen sind.“ Bei Hoenig ist das ein Schuh genauso wie eine Hand oder die Perlenkette um den Hals der Berührten. Ist die Projektionsebene bei Baudrillard der Videobildschirm, so lässt sich bei Hoenig seine Idee vom fraktalen Subjekt auf die Leinwand, die textile Leinwand und das Medium der Ölmalerei, das Ölgemälde anwenden, das sie in altmeisterlicher Technik seriell erstellt.

Die elaboriert ausgeführte Malerei verstärkt den Eindruck des Universellen im Fraktalen. Für Hoenig ist sie aber vor allem Ausdruck einer universell lesbaren Sprache. Detailgenauigkeit manifestiert sich in ihrer Maltechnik aus vielen Farbschichten und langen akribischen Arbeitsprozessen. Die präzise auf die Leinwand gesetzten Kompositionen lassen keine Skizzenhaftigkeit zu. Hoenig überlässt nichts dem Zufall, alles scheint unter Kontrolle. Das ist das Paradoxe ihrer Kunst. Kontraststark setzt sie Licht und Schatten und formt die Körperoberflächen wie eine Bildhauerin, plastisch vibrieren Muskeln, Sehnen unter dieser Oberfläche, zeichnet die Anatomie sich ab unter der Haut. Im barocken wie klassischen Chiaroscuro bekommen manch weiche Körperübergänge die Härte von Furchen und Kanten, über die sich wächsern die Haut spannt. Unschärfen und Rätselhaftigkeiten entstehen nicht durch unkonturierte Bereiche oder anskizzierte Leerstellen in der Komposition sondern durch die Abgewandtheit des Modells im künstlichen Schimmer der Lichtstimmung in einem Zimmer oder im Zwielicht einer fremd-surrealen Landschaft, die wiederum im Widerspruch zur Figur steht und dadurch die Spannung steigert.

In vielen der Bilder nimmt Hoenig die nackte Haut als wichtiges Teilmotiv. In dem Gemälde „Arm’s Length“ aber lässt sie die rätselhafte Schöne völlig bekleidet und somit bedeckt. Die Frau schüttelt befreiend ihr Jackett ab und blickt in die Ferne. Das lange kastanienbraune Haar zieht sich am Nacken entlang, ist in den Kragen ihrer Bluse gerutscht und verschwindet über ihre Schulter nach vorne, während feine Strähnen losgelöst über ihren Rücken mäandern. Ihr Gesicht ist abgewandt, man sieht es nicht, auch nicht im Anschnitt, bis zur Taille füllt sie das Bild. Eine Momentaufnahme, frei und eigenständig. Ihre Haltung, ihr Habitus, das Innehalten in diesem Augenblick bringt eine innere Verfasstheit, eine Emotion des Augenblicks zum Ausdruck. Anne Hoenig hat die Szene in kühles Zwielicht getaucht, einen Dämmerschein über die Frau gelegt, über den kahlen Wald und die bleigrauen Baumstämme im Hintergrund. Die helle Bluse fängt das zentrale Licht ein und geht in scharfer dunkler Schattenkante in den glanzgemustert schimmernden Mantel über. Dynamisch bewegt fächert dieser sich auf, das ganze Gewand scheint in der Bewegung ebenso innezuhalten wie die Frau, seine Falten sind zu Kanten und Furchen erstarrt.

Sie erinnern an historische Abbildungen, an Kostümierungen, Moden und Umhänge, wie man sie von Darstellungen schon bei Meistern der Frührenaissance kennt, auch bei Dürer wiederfindet, wo die Faltenwürfe ein wesentliches Element des Ausdrucks und der Repräsentation bilden. Hoenig schafft auch hier Repräsentationen durch Analogien. Sie lässt aus dem Ärmel überlange Seidenmanschetten über die Hand hinaus ragen, die Geste ist höfisch in der Anmutung und zugleich lässig in seiner beiläufigen Nachlässigkeit. Darin unterscheidet sich dieses Bild vielleicht von anderen, da Hände, Finger und ihre expressive Haltung konturenreich im harten Licht-Schattenspiel häufig im Zentrum von Hoenigs Bildkompositionen stehen. Hier steht die Textur der Seidenbluse im Fokus, die samtig gerippte Oberfläche des Mantels fängt das Licht nur noch dezent an den Faltenkanten. Dieses Changieren verleiht dem Gemälde nicht nur eine altmeisterliche Aura, die Hoenigs gesamtes Werk auszeichnet. Sie geben ihm darüber hinaus den Nimbus eines inszenierten Auftritts, der durch die Pose des plötzlichen Innehaltens noch verstärkt wird. Beides steht sowohl exemplarisch für diese Serie, wie auch für die früheren Serien „Time Slice“ und „Hard Boiled Painting“.

Nebensächlich erscheint, ob die Figuren mit Farbtönen gefüllt oder ob ihnen die Farbe entzogen ist, und sie im Schwarzweiß wie aus einer anderen Zeit auftauchen, Wiedergängern gleich, denen der Lebenssaft entzogen aber Kraft noch innewohnt. So bäumt sich die Frau in „Back Seat“ auf, liegt aber in „Arm in Arm“ allein auf dem fahlen faltigen Laken. Hier sei das Gemälde „Lateral Motion“ aus der Serie „Hard Boiled Painting“ erwähnt. Markant tritt auch darin der performative Akt in Augenschein. Eine Frau liegt hingestreckt, sich in heftiger Bewegung halb aufrichtend auf dunkel kaltem Boden, als wolle sie sich wegwinden vom Betrachter. Hoenig erteilt hier dem Schweizer Maler Balthus beiläufig Referenz. In Nahaufnahmen, Close-ups aus schrägem Blickwinkel oder in Frontalansichten generieren die Gesten und Bewegungsmomente Emotionen beim Betrachter. Der Einfluss der Pop-Art und des Hollywood-Kinos sprechen nicht nur aus den Oberflächen in Hochglanz, wie in „Up in Arms“, sondern weisen auch auf Hoenigs Jahre in Hollywood hin, wo sie bis Mitte Zwanzig als Film-Editor arbeitete.

Anne Hoenig hat sich für eine sehr zeitintensive Arbeitsweise entschieden. An die zwölf Bilder malt sie im Jahr, arbeitet an allen gleichzeitig, eignet sich ihre Sujets über einen mehrphasigen Prozess an. Sie beginnt mit Zeichnungen, auf denen sie den dynamischen Moment der Bewegung festhält. Sucht dann entsprechend ihre Modelle aus und inszeniert die Posen in Foto-Shootings ausgehend von diesen ersten Skizzen. Die Hintergründe werden alle später determiniert. Die Fotografien dienen ihr in weiteren Arbeitsschritten als Erinnerungsverstärker, als Rückversicherung wie das Licht auf einem Fingernagel liegt oder ein Saum einen Schatten wirft. In ihrem Studio bewegt sie sich von einem Bild zum nächsten im Raum, legt sorgfältig deren Struktur fest und trägt jede Schicht einzeln auf. Die Hautfarben unterlegt sie oft mit einem Grün, das dann bläulich in Blutadern durch die später aufgetragene gelblich fleischfarbene Schicht schimmert. In weiteren Farbschichten erreicht sie optische Effekte und jene brillanten Lichtreflexe, die den Gemälden einen inneren Glanz und Reichtum verleihen. Während des Malprozesses widmet sie eine ausgedehnte Arbeitsphase allein der Kleidung. Die letzten Schichten der komplizierten Lasuren akzentuieren die Dreidimensionalität und verstärken unser Gefühl von Raum und Licht.
Die Trocknungsprozesse der Farben geben den Zeitfluss vor.

Es ist Teil ihres Konzeptes von Malerei, ja ihre Obsession und Leidenschaft, die altmeisterliche Technik der Schichtenmalerei mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln für sich voranzutreiben. Um die außergewöhnliche Farbbrillanz zu erzielen, benutzt Hoenig spezielle und kostbare Pigmente und Ölfarben, die nach historischen Rezepten hergestellt sind. Lapislazuli aus Afghanistan für leuchtendes Ultramarin, gebrannte Siena aus dem italienischen Siena. Es zeigt ihre Wertschätzung für erstklassige Farbpigmente und ermöglicht die dichte, vielfältig reflektierende Bildoberfläche.

Rückenansichten, liegende und sich aufrichtende Akte, ein Schauspiel zersplittert in Posen - damit bezieht sich Anne Hoenig, wie bei den Faltenwürfen, zwar auf klassische Motive der Kunstgeschichte. Aber so, wie die technische Finesse ihrer Bilder, die saftig-satten Oberflächen, die feinen Details und malerischen Lichtinseln, sind auch sie bloße Vehikel, um tiefere, grundlegende Emotionen hervorzurufen. Die Gemälde sind strahlend, auratisch und verlockend - emotionale Generatoren. Bilder, die Gedanken und Gefühle verkörpern, die nichts verbergen, aber ein Geheimnis heraufbeschwören und zugleich die Sehnsucht, dass die Wahrheit verborgen bleibe. Was also sehen wir? Schillernde und rätselhafte Gemälde, die aus sich selbst sprechen. Ihre Qualität liegt in der Ungewissheit, in einem unerklärlichen Geheimnis. Die intime Unermesslichkeit des erhalten gebliebenen Momentes - das ist der Schlüssel zu diesem Werk. Die Macht der Geste, Emotionen hervorzurufen und der Sinneszustand, im Zwischenreich aller Aktionen anzuhalten. Da nämlich, „wo wir Stille finden.“